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Wenn es Philosophen gibt, die in einen Kanon antiker Literatur – auch für die europäische Rechte – gehören, muss es einer der drei großen Griechen sein: Sokrates, Platon oder Aristoteles. Platon, von dem der Logiker Alfred North Whitehead einmal sagte, alle weitere abendländische Philosophie stelle nicht viel mehr als Fußnoten zu seinen Werken dar, wird dem durch sein Hauptwerk, die Politeia, am ehesten gerecht. Er lebt schätzungsweise von 427-347 v. Chr. in Athen, entstammte einer Adelsfamilie und gründete 385 v. Chr. eine „Akademie“ vor den Toren Athens. Nach der Hinrichtung seines Lehrers Sokrates 399 v. Chr., der keine Schriften hinterließ, schrieb er zunächst das nieder, was dieser ihm beigebracht hatte bzw. dessen Dialoge. Daraus entstanden Werke wie die Apologie und der Theaitet.
Die Politeia (Der Staat) entstand um 350 v. Chr. In ihr beschreibt Platon den aus seiner Sicht idealen Staat und den günstigsten Umständen. Er kommt auf Fragen zurück, wie die, ob es eine Idee der Gerechtigkeit gibt, die in allen Gesellschaften und zu allen Zeiten gilt. Das Ergebnis ist eine greifbare, praktische Philosophie in Form der für Platon typischen Dialoge, die leicht zugänglich ist und doch eine herausragende philosophisch-theoretische, aber aufgrund der Mythen und Gleichnisse auch literarisch-künstlerische Leistung darstellt.
In diesem in drei Teilen erscheinenden Artikel soll die Bedeutung der Politeia verdeutlicht werden, weshalb sie Teil eines Kanon der antiken Literatur sein muss, der wiederum der europäischen, besonders der deutschen Rechten gut täte, die sich meines Erachtens aktuell viel zu sehr an Banalitäten um Marx und seiner auf materialistischer Metaphysikkritik beruhenden Ideologie, von der wir nur lernen können, wie es nicht funktioniert, und an der ständigen, immer selben Kritik an anderen, Liberalen, echten oder vermeintlichen Universalisten oder sonst wem aufhängt – auch wenn das Wissen um den theoretischen Hintergrund des Gegenübers nicht schadet – statt sich mit WIRKLICH großen Denkern auseinander zu setzen und endlich losgelöst für sich zu arbeiten.
Behandelt werden daher im ersten Teil der Platon-Reihe zunächst die Beeinflussung durch und die Loslösung von sokratischer Philosophie, die die Politeia von früheren Werken unterscheidet, die Philosophie von Gerechtigkeit, Seelenlehre und Staat und der daraus resultierende, erste Entwurf eines gesellschaftlichen Miteinanders. Im zweiten Teil wird Platons Einfluss auf die weitere Philosophie und die von ihm erschaffene Grundlage für den Rationalismus des 17. Jahrhunderts betrachtet und auf die Beeinflussung der katholischen Kirche und der Begründer des Islam – oder waren einige Überzeugungen schon immer in verschiedenen Gesellschaften vorhanden? – eingegangen. Im dritten Teil der Reihe sollen die literarisch-künstlerischen Seiten der Mythen und Gleichnisse Platons beleuchtet, sowie einige Nebenwerke Platons vorgestellt werden, die vielleicht weniger einflussreich gewesen sein mögen, aber je nach Kriterien und Präferenz ebenfalls kanonfähig sein könnten, besonders für den Einstieg in die Lektüre platonischer Philosophie.



Wo steht die Politeia?

Sokrates übte als dessen Lehrer großen Einfluss auf Platon aus. Nachdem dieser ihn überzeugt hatte, nicht Dichter zu werden und mit ihm seine Tragödien verbrannte, widmete Platon sich wie Sokrates der Suche nach dem Guten und übernahm dessen Stil des logischen Argumentierens. Bei den vorsokratischen Sophisten war das noch nicht immer der Fall, wurde jedoch durch Platon und später Aristoteles bis heute Standard in der Philosophie.
Das Kernelement platonischer Philosophie bildet seine Ideenlehre. Schon Sokrates stellte immer „Was ist …?“-Fragen und wollte allgemeingültige Definitionen finden. Platons Ideenlehre kann als eine direkte Antwort auf eine solche „Was ist …?“-Fragen gesehen werden. Hier wird klar, dass die Politeia zu den mittleren Werken gehörend zwar nicht mehr so stark von Sokrates beeinflusst wurde wie – als Extrembeispiel – die Apologie und Platon sich über die Zeit von seinem Lehrer loslöst, aber dennoch weiterhin unter dessen Nachwirkung steht.


Gerechtigkeit, Seelenlehre und Staat /
Tugendethik und politischer Perfektionismus

Die Tugendethik arbeitet, wie der Name verrät, an einer Theorie der Tugenden. Moral ist zu komplex, um sie auf einige Handlungsregeln herunterzubrechen, wie es die Deontologie versucht. Im Rahmen der Tugenden, der guten Charaktereigenschaften können Regeln aufgestellt werden wie: „Man soll tun, was aufrichtig/liebevoll/gerecht/… ist“ und „Man soll nicht tun, was kleinlich/ungerecht/… ist.“ Platons Dialoge zeigen häufig einen Sokrates, der nach Tugenden wie Weisheit, Gerechtigkeit, Mut oder Frömmigkeit fragt. Oder wie im Menon-Dialog nach der Tugend selbst.
In der Politeia fragt er nach der Gerechtigkeit. Die bestehe in der Wahrheit und im Zurückgeben von etwas Empfangenen, in der Fähigkeit der Seele, die auf innere Tüchtigkeit zurückgeht, wenn der vernünftige Seelenteil über den muthaften und den begehrenden Seelenteil herrscht. Gerecht sind Handlungen, die tugendhaft machen. Die Idee des Guten ist für Platon noch grundlegender, da die Tugend an ihr Teil hat. Gutes kann intrinsisch um seiner selbst Willen, extrinsisch für andere oder beides sein. Tugenden wie die Gerechtigkeit sind in- und extrinsisch gut, denn beispielsweise die Ungerechtigkeit mache unfähig zu handeln:
„Die Ungerechtigkeit schafft doch (…) Zwistigkeit, Hass und gegenseitigen Hader, die Gerechtigkeit Eintracht und Freundschaft. (…) Das ist offenbar ihr Wesen; wen sie befällt, ob Staat, Volk Heer oder sonst wen, dem nimmt sie die Fähigkeit zu folgerichtigem Handeln infolge inneren Zwistes, dann verfeindet sie ihn mit sich selbst und jedem Gegner, auch dem Gerechten.“
Auch bei Einzelpersonen kommt Gerechtigkeit in der Regel positiv zurück – wenn nicht früher, dann später, auch, wenn sie manches Mal zunächst ausgenutzt wird. Platons Ergon-Argument hierzu lässt sich wie folgt zusammenfassen: Besondere Aufgabe (ergon) der Seele ist, der Person Leben zu ermöglichen. Gerechtigkeit ist die Fähigkeit der Seele, diese Aufgabe zu leisten. Je ausgeprägter die Fähigkeit, desto besser wird die Aufgabe geleistet und je ausgeprägter die eigene Gerechtigkeit, desto besser lebt man.
Im Eudämonistischen Argument führt Platon weiter aus, dass die Seele sich aus drei Teilen zusammensetzt: dem Begehren, dem Mut und der Vernunft. Jeder Seelenteil empfindet seine Art von Lust und Schmerz. Die Lust, nach der Begehren und Mut streben, ist nur dann wahrhaftig, wenn sie von der Vernunft kontrolliert werden. Denn echte Lust wird häufig verwechselt mit ihrem Schein. Begehren und Mut streben nach dem Schein und nur die Vernunft kennt das für sie wahrhaft Lustvolle. Die Vernunft empfindet deshalb die wahrhaftigste Lust, denn sie beschäftigt sich mit den Ideen, die echter sind als alles andere, was nur ein Schatten ihrer ist. Sie sind beständig, ewig. Nur die Person, deren Seelenteile ihre jeweils echte Lust empfinden, ist glücklich. In der gerechten Person herrscht die Vernunft über die anderen Seelenteile. Also: In ihr empfindet jeder Seelenteil echte Lust und nur sie ist glücklich, egal, was ihr zustößt.
Die Theorie der drei Seelenteile und des vernünftigen Teils, der über Begehren und Mut herrschen muss und die Ansicht, das ethisch Gute müsse vervollkommnet werden, macht Platon zum ethischen Perfektionisten. Seine Ansichten und Argumentationen überträgt er auf den Staat: so entwirft er in Buch 3 der Politeia eine Utopie des vollkommen gerechten Staates. Durch politisches Handeln sollen gute menschliche Eigenschaften im Privaten wie im Öffentlichen gefördert werden. Die beste politische Handlung, Institution oder Regierung sei also eine, die die ethische Perfektion der Bürger am meisten fördert. Dementsprechend besteht für Platon eine Analogie zwischen der perfekten, gerechten Seele und dem perfekten, gerechten Staat: Jeder Teil in ihm soll das Seine tun. Es entsteht eine größere Produktivität durch Spezialisierung statt „Vielgeschäftigkeit“. Der Staat wird in drei Stände aufgeteilt, analog zu den Teilen der Einzelseele: die Ernährer, die Wächter und die Philosophenkönige. Sie werden begründet durch den Metallmythos, der auf natürliche Eignung und Standzuweisung durch Geburt abzielt, wobei Auf- und Abwärtsbewegungen möglich sind.
Im Stande der Ernährer finden sich z.B. Landwirte, Kaufleute und Handwerker. Sie sind zuständig für die körperlichen, materiellen Bedürfnisse der Bürger. Die Philosophen erkennen, so Platon, das Gute, weil sie der vernünftigste Teil der Gesellschaft sind und herrschen deshalb über den Rest. Sie werden meist aus dem Stand der Wächter rekrutiert, welche den Willen der herrschenden Philosophen umsetzen. Sie sollen hörig sein und tapfer gegen alle anderen – analog dem muthaften Seelenteil, der dem vernünftigen helfen soll. Für sie entwirft Platon eine „kommunistisch“ anmutende Lebensweise: sie haben keinen Privatbesitz, keine festen Partner oder Familie. Auch Frauen können Wächter sein und erfüllen dann dieselben Aufgaben wie ihre männlichen Kollegen. Anstelle der Familiengründung sollen die Wächter Freundschaften unter ihres gleichen vorziehen, denn sonst käme es zu Unordnung.
Jeder tut das Seine, wozu er geboren ist, seinem Stande gemäß. Daran erkenne man, wer gerecht ist. Außerdem zeige sich das wahre Wesen der Gerechtigkeit nicht in Bezug auf das äußere Handeln des Menschen, sondern auf seine innere Tüchtigkeit, wo es wirklich um ihn selbst und das Seine geht.
Ob man Platon zufolge Gerechtigkeit erkennen kann, ohne selbst gerecht zu sein, ist jedoch fraglich, denn: einerseits diskutiert Sokrates mit wechselnden Partnern darüber, ob es vorteilhafter sei, gerecht oder ungerecht zu sein, und wer dies fragt, muss die Gerechtigkeit erkennen. An diesem Punkt müsste auch die eventuell vorhandene eigene Ungerechtigkeit bewusst sein. Andererseits können sie die Menschen kaum realisieren, wenn ihre Seelenteile nicht gesund angeordnet sind, die Vernunft also nicht über Mut und Begehren herrscht. Dann folgt der Mensch seinen Trieben und wird sich mangels Vernunft immer in dem Glauben befinden, selbst gerecht zu sein. Selbiges lässt sich auf den Staat übertragen.
Die Politeia steht exemplarisch für politischen Perfektionismus, denn die herrschenden Philosophenkönige sollen das Gute erkennen, zum Vorbild nehmen und die Bürger „in Ordnung bringen“ und erziehen. Nur durch Tugend wird man laut Platon glücklich. In der Philosophie wird die Politeia teilweise dahingehend kritisiert, dass die Menschen bevormundet und ihnen das von Platon entworfene „gute Leben“ aufgezwungen werden soll, durch Paternalismus – bei dem die niederen Stände nicht als vollwertige, mündige Bürger angesehen werden, sondern wie Kinder – und nötigenfalls auch mit Gewalt, wobei das Gegenteil von letzterem zumindest nicht bewiesen ist. Platon skizziert in seiner Philosophie über Gerechtigkeit, Seelenlehre und Politik ein gesellschaftliches Miteinander, das zwar hinausläuft auf einen autoritären Staat, der jedoch keinen Totalitarismus beinhaltet, da sein Entwurf weder durch eine Massenbewegung noch durch zu vernichtende Feinde geprägt ist.

Mehr Planton. Teil 2

Literaturverzeichnis

1. Primärliteratur:
– Platon: Der Staat. Stuttgart: Reclam 2012.
– Platon: Sämtliche Werke. Band 1. (Apologie, Kriton, Ion, Hippias 2, Theages, Alkibiades 1, Laches, Charmides, Euthyphron, Protagoras, Gorgias, Menon, Hippias 1, Euthydemos, Menexenos.) Hrsg.: Burghard König, Hamburg 2019.
2. Sekundärliteratur:
– Buckingham, Will; Burnham, Douglas u.a.: Das Philosophie-Buch. München:
Dorling Kindersley 2011.
– Kytzler, Bernhard: Platon – Das Höhlengleichnis. Sämtliche Mythen und Gleichnisse. Berlin: Insel Verlag 2017.
– Meyer, Martin: Platon und das Sokratische Pragma, in: Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter 9. Hrsg.: John Benjamins B.V. Amsterdam 2004.
– Nimtz, Christian: Rationalismus, in: Ders., Jordan, Stefan (Hrsg): Grundbegriffe der Philosophie. Ditzingen: Reclam 2009.
– Anonym: „Rationalismus“. Abgerufen unter: https://dewiki.de/Lexikon/Rationalismus am 08.09.2021.
– Fischer, Holger: Philosophische und politische Einflüsse auf die Kirche. Abgerufen unter http://theologischetexte.over-blog.com/2017/05/antike-philosophie-und-kirche.html am 05.09.2021.
– Haertel, Brigitte: Die Seele – mehr als ein abstrakter Begriff. Abgerufen unter https://www.katholisch.de/artikel/20674-die-seele-mehr-als-ein-abstrakter-begriff am 05.09.2021.
– Rudolph, Ulrich (2019): Zwischen Platon, Ardaschmir und Mohammed: Politische Philosophie in der islamischen Welt. Abgerufen unter https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110664836-023/html am 04.09.2021.

Titelbild: bearbeitet nach
https://www.jw.org/de/bibliothek/zeitschriften/g201302/platon-griechischer-philosoph/ (25.11.2021)