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Im vergangenen Monat verfassten wir einen Leserbrief an das Konflikt-Magazin, in dem wir uns zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden hinsichtlich philosophischer und ideologischer Fragen äußerten. Kürzlich folgte die Antwort:

Bereits im Frühling erschien mit dem Kaplaken-Band Nr. 74 im antaios-Verlag unser erstes Buch: In Postliberal stellt die konflikt-Redaktion ihre grundlegenden Überlegungen für eine rechte politische Theorie im 21. Jahrhundert dar. Neben einigen sehr positiven wie auch sehr kritischen Rezensionen und Besprechungen erreichte uns Anfang Juli ein Leserbrief von Martin Grambauer (Aktion Nord-Ost), den wir ebenfalls veröffentlichten. In dieser Antwort nehmen wir Bezug auf den Leserbrief und die in ihm ausgedrückte libertäre Weltsicht und führen von jenem Ausgangspunkt einige vertiefende Gedanken zur postliberalen Rechten aus.

Verkaufsgespräche

Wir möchten nicht persönlich werden, denn wir kennen den Verfasser des Leserbriefes mittlerweile schon länger und stehen in regelmäßigem Kontakt zu ihm. Gerade weil wir in vielen Punkten nicht einer Meinung sind, ist es gut und nützlich, immer wieder potenzielle Schwachstellen und »blinde Flecken« unserer eigenen Positionen vorgezeigt zu bekommen. Ein solches kritisches Verhältnis zwischen Proponenten unterschiedlicher Gesellschaftsbilder ist fruchtbar und für ein wirkliches Vorankommen des theoretischen Standes politischer Bewegungen unerlässlich.

Zugleich können und müssen wir jedoch auch unsererseits mit der gebotenen Genauigkeit die Argumente unseres Gegenübers dekonstruieren und, wo möglich, widerlegen. Dabei fallen gewisse Muster auf: Gerade bei Argumenten aus dem libertären Lager fallen immer wieder logische Ungereimtheiten auf, welche von ihren Urhebern anscheinend selbst nicht bemerkt werden. Nach einiger Auseinandersetzung mit libertären Gegenpositionen gegen unsere Artikel fallen uns zweierlei Probleme auf: Erstens eine fehlende oder mangelhafte philosophische Grundlage und zweitens eine Argumentationsstruktur, die eher überzeugen als beweisen will. Es ist, als würde der Libertäre von sich aus eher zum Vorgehen des Verkäufers neigen als zu dem des Anwaltes.

So auch im vorliegenden Leserbrief: Der Verfasser steigt ein, indem er eine allgemeine Theorielosigkeit im rechten Lager moniert – viele würden sich durch das Anschauen einiger YouTube-Videos etwas Halbwissen aneignen und sich sogleich für Visionäre halten, die sich mit Profanitäten wie der Wirtschaft nicht beschäftigen müssen. Bis hierhin eine Klage, der man durchaus zustimmen kann, wenn man einmal ein paar Diskussionen auf Twitter oder anderen sozialen Medien ertragen hat. Doch hier setzt der non sequitur an: Genau aus diesem Grund, so der Verfasser, sei es »kein Wunder, dass der Solidarische Patriotismus von so vielen begeistert aufgenommen wurde«.

Völlig unvermittelt wird von der wahrgenommenen Theorie-Abneigung vieler Rechter auf den einschlagenden Erfolg des Buches Solidarischer Patriotismus von Benedikt Kaiser geschlossen. Jenem Buch und seinem Autor kann man nun wirklich einiges vorwerfen, aber mit Sicherheit nicht mangelnde theoretische Kenntnis seines Gegenstandes und/oder mangelhafte wissenschaftliche Methodik. Es ist also nachgerade das Gegenteil von dem, was der Verfasser impliziert, der Fall: Wer sich mit dem Buch wirklich auseinandersetzt, wird unweigerlich einen tiefen theoretischen Einblick in die Geschichte und Gegenwart (rechter) deutscher Sozialpolitik erlangen – ganz egal, ob er Kaisers Forderungen am Ende zustimmt oder nicht.

Insofern der rhetorische Angriff völlig unfundiert ist, kann er seine Wirkung nur bei demjenigen entfalten, der schon vorher dem Solidarischen Patriotismus und seiner breiten Rezeption gegenüber komplett abgeneigt waren; doch müsste der natürlich nicht noch einmal davon überzeugt werden. Doch es gibt noch eine andere Gruppe, bei der ein solcher Seitenhieb durchaus eine subtile Meinungsverschiebung im Sinne des nudging entfalten könnte: Alle diejenigen, die nicht so genau hingucken. Sie sollen sich von den zuvor erwähnten Pseudo-Visionären mit YouTube-Bildung abgrenzen wollen, und die Argumentation bietet ihnen als Möglichkeit dafür die Ablehnung des Solidarischen Patriotismus als (vermeintlich) unwissenschaftlichem Quatsch. So erzielt man bei einem Teil des Publikums einen rein emotional vermittelten Überzeugungs-Effekt, ohne irgendetwas schlüssig bewiesen zu haben.

Philosophischer Liberalismus

Warum an dieser Stelle der ausführliche Exkurs zu so einem kleinen rhetorischen Seitenhieb? Der Grund liegt, wie bereits angeschnitten, darin, dass man immer und immer wieder auf solche und ähnliche Argumentationsweisen stößt, wenn man sich mit marktliberalen und libertären politischen Argumenten befasst. Wie in unserer Analyse der letzten Print-Ausgabe der Recherche D und unserem Lesekreis zu Markus Kralls Buch Freiheit oder Untergang (musste leider lange pausieren, Fortsetzung folgt Anfang August) bereits festgestellt wurde, versuchen libertäre Ansätze nur selten, durch eine in sich schlüssige Theorie zu überzeugen. Stattdessen zielen sie häufig stark auf die Emotionen ihres Publikums ab – ob in bewusst manipulativer Absicht oder nicht, sei an dieser Stelle dahingestellt.

Nun stehen wir weit davon entfernt, dem Verfasser des Leserbriefes solche Absichten zu unterstellen. Im Gegenteil: Wir denken, dass er selbst zu irgendeinem Zeitpunkt in der Vergangenheit auf manipulative Weise von einem Weltbild überzeugt worden sein muss, das ihm einerseits bei seinem generellen Unbehagen über die gegenwärtige Gesellschaft zustimmt und ihm sogleich eine Scheinlösung für diese Probleme an die Hand gibt, indem es eine falsche Ursache konstruiert. In anderen Worten: Als Patriot will er die Probleme seines Landes beheben, doch als Libertärer folgt er einer Ideologie, die weder die Ursache noch potenzielle Lösungen dieser Probleme fassen kann.

So beschreibt der Verfasser im fünften Absatz ausführlich die von ihm wahrgenommenen Zeitprobleme unseres Landes (Kulturverfall, Auflösung der Gesellschaft, Identitätsverlust, Konzernmonopolismus), um im darauffolgenden Absatz tatsächlich als Ursache heranzuziehen, die negativ definierte »Freiheit von« wäre zu einer positiv definierten »Freiheit zu« umdefiniert worden, was allerhand Staatseingriffe ermögliche, die diese gesellschaftlichen Verfallserscheinungen verursachten.

Im Mittelpunkt dieser Weltauffassung steht also die Freiheit; somit handelt es sich um eine Form des Liberalismus. Aus dem Freiheitsbegriff heraus würde staatliches Handeln abgeleitet werden, und dieses Handeln verursache die realen gesellschaftlichen Probleme. An dieser Stelle staunen wir doch sehr: Kurz zuvor schob der Verfasser noch einen radikalen Realitätsbezug – »die Frage, wie wir unsere Kühlschränke befüllt und Mieten bezahlt kriegen« – vor, um jetzt die Wurzel aller Probleme ausgerechnet darin zu sehen, dass ein abstrakter philosophischer Begriff, die Freiheit, heute unterschiedlich gedeutet würde als zuvor.

Der philosophische Liberalismus steht seit eh und je vor genau diesem Problem, ohne es selbst recht wahrzunehmen: Er will einerseits von den einfachen, unmittelbaren, evidenten Dingen ausgehen und greift andererseits für seine Welterklärung notwendig auf eine abstrakte quasi-allmächtige Entität zurück; Letztere nennt er spontane Ordnung (Hayek), Unsichtbare Hand (Smith) oder eben die Freiheit. Damit verfängt er sich jedoch in eine grundlegende Antinomie, die er selbst nicht aufheben kann: Er will bei den ersten Dingen anfangen und sucht diese im alltäglichen Miteinander der Menschen, muss zur Begründung derselben täglichen Gepflogenheiten jedoch urplötzlich ein abstraktes philosophisches Prinzip bemühen, dass über und hinter den Dingen stünde.

Freiheit und Macht

Wer jedoch vom persönlichen Leben abstrahiert und die größeren Zusammenhänge betrachtet, der stellt schnell fest, dass Freiheit im großen Maßstab zwar als Bedingung von Märkten existiert, in der Politik jedoch überaus wenig zu suchen hat – dort geht es nicht um Freiheit, sondern um Macht. Diese Macht akkumuliert sich wiederum in der kapitalistischen Gesellschaft nicht unwesentlich auf Märkten: Wer am meisten Geld, Ressourcen, Humankapital und Produktivkraft zur Verfügung hat, kann nicht nur die Konkurrenz vom Markt drängen, sondern auch Einfluss auf außer-wirtschaftliche Affären nehmen. Ökonomische Macht reiht sich somit neben diskursiver (Medien-), militärischer, Legistlativ-, Exekutiv- und sonstiger Macht in die Reihe dessen ein, was ein Individuum oder eine Gruppe für die Durchsetzung politischer Ziele bedarf. Die Freiheit des einzelnen Marktteilnehmers verhält sich jedoch zur Macht der großen Konzerne ähnlich wie die Freiheit des Normalbürgers, welche Zeitung er sich kauft, zur Macht der großen Medienhäuser – wenn diese im Endeffekt dieselben politischen Ziele verfolgen, wird die Freiheit des Einzelnen unverblümt zur subjektivistischen Farce.

Ein solcher Zustand, in dem einige wenige Akteure mit weitgehend kompatiblen Zielen die Macht unter sich aufteilen, wird dann Oligarchie genannt, wenn es sich bei diesen Akteuren um Einzelpersonen (Milliardäre etc.) handelt. Ist es hingegen, wie in der gegenwärtigen Bundesrepublik Deutschland, ein größerer Zusammenhang relativ heterogener Personen, Interessengruppen und Organisationen, die gemeinsam die Macht monopolisieren, wird es deutlich komplexer. Historische Begriffe wie herrschende Klasse und Kapitalismus eignen sich hier teilweise zur Beschreibung – zumal sie die häufig vergessene ökonomische Komponente in den Mittelpunkt rücken –, sollten jedoch primär als Denkhilfen betrachtet werden – der postdemokratische Machtkomplex unserer Gesellschaft ist aufgrund seiner pluralistischen Herkunft weitaus uneiniger (und zugleich schwieriger zu durchschauen) als etwa die Oligarchenherrschaft in der Ukraine oder das Einparteiensystem in China.

In dem Maße, in welchem in einer vormals pluralistischen Gesellschaft Macht akkumuliert (und somit dem freien Markt entzogen!) wird, und in welchem sich folglich die betreffende Gesellschaft von einer liberalen Marktgesellschaft zu einem neoliberalen Machtkomplex wandelt, steigt dem einzelnen Marktteilnehmer ohne politische Macht – also dem einfachen Bürger – das sprichwörtliche Wasser immer stärker bis zum Hals. Am Schluss bleibt von seiner vermeintlich ursprünglichen Freiheit lediglich das zurück, was sie seit der Bauernbefreiung im 19. Jahrhundert war: Die Freiheit, seinen Wohnort und seinen Arbeitgeber selbst zu wählen und sich auf dem Konsumgütermarkt zwischen verschiedenen Marken zu entscheiden. Alles andere – sämtliche Entscheidungen, die über Kauf und Verkauf hinausgehen – unterliegt Mächten, die sich zunehmend konsolidieren und immer weniger Spielraum für abweichende Fundamentalpositionen zulassen.

Es lässt sich von einer Art philosophischen Diktatur reden: Am Ende des Tages gilt nicht der Freiheitsbegriff des Leserbrief-Verfassers, sondern der Freiheitsbegriff der mächtigsten institutionellen Akteure. Diese jedoch sind häufig nicht zuletzt deswegen so mächtig, weil sie ihr Handeln und Reden eben nicht nach den abstrakten idealistischen Begriffen irgendeiner Denkrichtung gestalten, sondern weil sie einen mehr oder minder stark ausgeprägten Willen zur Macht mit günstigen persönlichen Startbedingungen, weltanschaulichem Opportunismus und zweckrationaler Vernunft verbinden. Im Gulag starben außerordentlich viele Insassen, die den Marxismus-Leninismus weit besser verstanden als Stalin.

Postliberal

In diesem Sinne verstehen wir uns als postliberal: Fernab von anachronistischem Antiliberalismus ziehen wir nicht aus, um den Liberalismus zu bekämpfen und an seinen Wurzeln auszureißen, sondern wir setzen uns mit seiner materiellen und ideellen Geschichte auseinander und stellen fest: Er liegt bereits im Sterben, denn sein philosophisches Fundament ist löchrig und seine gesellschaftlichen Voraussetzungen sind nicht mehr gegeben. Wenn wir vom Neoliberalismus als letzter Phase des Liberalismus sprechen, handelt es sich dabei auch nicht um einen »rhetorischen Kunstgriff, um ein Feindbild weiter pflegen zu können«, sondern um eine Bezeichnung für die Übergangsphase vom Liberalismus zu dem, was danach kommt; dieser Übergang wirft den Liberalismus ein letztes Mal auf seinen Kern, nämlich die Perspektive des einzelnen Marktteilnehmers, zurück, indem sie diese und die damit einhergehende Atomisierung und Flexibilisierung massiv vorantreibt. Zugleich beraubt er besagte Individuen jedoch jeglicher politischer Macht, sodass sie nicht wie die Liberalen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts revolutionär auftreten können, sondern sich entweder entpolitisieren oder lediglich auf dem leeren Prinzip der Freiheit pochen müssen.

Dass die Freiheit für den individuellen Marktteilnehmer in allen Bereichen seines Lebens außer beim Vertragsschluss nicht zu- sondern abnimmt, spricht somit nicht gegen den Begriff des Neoliberalismus, sondern bezeichnet seinen Kern. Nur deutet dies selbstverständlich andererseits darauf hin, dass vom klassischen Liberalismus – insbesondere in seiner politischen Form – wirklich kaum noch etwas übrig geblieben ist. Ein jeder Versuch der Reanimation wird jedoch notwendig scheitern müssen, weil er die (nicht mehr vorhandenen) Voraussetzungen für den Liberalismus außer Acht lässt und diesen, ähnlich wie die Freiheit, als abstrakten Begriff lediglich beschwören, nicht aber in der Realität verwirklichen kann.

Insofern stimmen wir der Sache nach ausdrücklich zu, wenn der Verfasser am Ende seines Briefes resigniert schreibt: »Die Gegenwart als liberal und kapitalistisch/marktwirtschaftlich zu bezeichnen ist ein mieser Etikettenschwindel des aktuellen Systems, bei dem sich das rechte Lager in Zurückhaltung üben sollte«. Wie in unserem kaplaken und in dieser Antwort dargelegt, stellen wir fest, dass der gegenwärtige Machtkomplex mit Liberalismus lange nichts mehr anfangen kann, marktwirtschaftliche Prinzipien längst unter einer übergeordneten Macht-Logik subsumiert wurden und selbst der Kapitalismusbegriff lediglich als Denkstütze dienen kann, um gewisse Bewegungsgesetze der Macht-Akkumulation zu beschreiben.

Dass wir uns dabei auch bei links konnotierten Denkern und Begriffen bedienen, liegt vor allem daran, dass die Linke seit jeher den Anspruch verkündet hat, gegen etablierte Machtstrukturen zu kämpfen, und dass sie deshalb ein umfangreiches Repertoire an geistigen Werkzeugen zu genau diesem Zwecke entworfen hat – freilich häufig mit aus unserer Perspektive fragwürdigen Zielen und Absichten. Wichtig ist uns lediglich, stets vor Augen zu behalten, dass das linke Denken historisch im Grunde aus derselben Situation heraus entstanden ist wie das liberale und lediglich spiegelverkehrte Prämissen aufweist, während das rechte Denken der liberalen Epoche mit seinem intensiven Bezug auf die Zeit vor den bürgerlichen Institutionen eigentlich als prä-liberales Denken gelten muss. Linke Kritik am Liberalismus ist somit als immanente Kritik zu fassen, rechte Kritik klassischerweise als externer Kampf gegen den Liberalismus.

Die entscheidende Neuerung ist für uns die Beobachtung, dass die liberale Epoche an und für sich abstirbt und etwas anderes an ihre Stelle tritt. Unsere Aufgabe als postliberale Rechte gestaltet sich demgemäß in einer abschließenden Theorie des Liberalismus, welche sowohl die immanente linke Liberalismuskritik als auch den rechten Antiliberalismus in sich aufhebt, und in einer davon ausgehenden politischen Theorie der Gegenwart. Deren Kernthemen drängen sich gewissermaßen von selbst auf: Es geht um den Nationalstaat und die Globalisierung, Digitalisierung und Vernetzung, Multiethnizität und Postdemokratie, Nachhaltigkeit und Entschleunigung, Individualkonsum und Solidarität – um nur einige Begriffe zu nennen, mit denen ein zeitgemäßes politisches Denken umgehen können muss.

Was dieses Denken dezidiert rechts macht ist sein Bezug auf Familie, Nation und Identität – und damit im Grunde auf die innere Natur des Menschen, der eben kein austauschbares Regalprodukt ist. Und doch sehen wir die gesellschaftlichen Entwicklungen genau dahin streben: Zu einer globalistisch unumkehrbar gleichgemachten Welt, in der der Mensch nicht mehr als historisches Individuum und damit zugleich als Teil eines konkreten identitätsstiftenden Kollektivs leben kann, sondern in welchem er komplett zur atomisierten Verfügungsmasse übermenschlicher Machtkomplexe wird. Eine postliberale Rechte ist diejenige gesellschaftliche Bewegung, die diese Entwicklung in ihrem jetzigen Stadium erkennt, ein Bewusstsein darüber entwickelt und ihr politisch etwas entgegensetzt.

Wir freuen uns über die Antwort von Konflikt und werden den Diskussionsbeitrag erwidern!