Literarisch-künstlerischer Wert

Abgesehen von seiner weitreichenden Wirkung auf Philosophie, Gesellschaft und Religion zeigt Platon auch seine künstlerische Begabung. Seine Dialoge sind leicht zugänglich für die Leser und strukturell äußerst geschickt aufgebaut. Durch sein Lebenswerk scheint sich ein roter Faden zu ziehen: Jeder Begriff, der in einem früheren Dialog nur vage angeschnitten wird, wird in einem späteren geklärt. So etwa im Menon, in dem der Begriff des Wissens nur zwecks seiner Entstehung und zur Weiterverwendung in der Diskussion über die Tugend angeschnitten wird, Platon ihm später mit dem Theätet jedoch einen ganz eigenen Dialog zu seiner Erörterung widmet. So bleiben seine Leser gespannt und können immer nach weiteren Antworten suchen. Auch an Gleichnissen und phantasievollen, aber doch passenden Mythen, die die Lektüre der Dialoge „auflockern“, spart Platon nicht. Einige von ihnen sind scheinbar von solch einem literarischen Wert, dass ihnen eigene Sekundärliteratur gewidmet wird. Sechs von ihnen finden sich allein in der Politeia: Die Mythen um den Ring des Gyges, von der Metallbeigabe in der Natur der Menschen in Bezug auf die drei Stände und der Bericht aus dem Jenseits, sowie die Gleichnisse von der Höhle, vom Schiffer und vom Ungeheuer, dem Löwen und dem Menschen. Da es den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde, auf alle sechs einzugehen, möchte ich mich auf die drei meiner persönlichen Meinung nach herausragendsten beschränken.

Im sechsten Buch der Politeia findet sich ein bildgewaltiges Gleichnis, das noch dazu an Situationen des Alltags erinnert wie kein anderes: das Schiffergleichnis. Hier beschreibt Platon die Situation eines Kapitäns, der ein Schiff auf hoher See lenkt. Er ist zwar stärker als alle anderen auf dem Schiff, aber schwerhörig und kurzsichtig. Doch die Matrosen wissen alles besser: Sie wollen selbst das Steuer übernehmen, obwohl sie selbst nie etwas von der Seefahrt gelernt haben und sogar behaupten, sie sei gar nicht lehrbar. Der Kapitän wird gefesselt und die Matrosen segeln dahin, feiern ihren Triumph und verachten jeden, der nicht mit Gewalt mithilft, dass sie an der Macht bleiben. Dass der Steuermann jedoch auf den Himmel, die Winde und vieles mehr achten muss, wissen die Matrosen nicht – für sie ist „der wahre Steuermann ein Himmelsgucker, Schwätzer und Taugenichts.“
Die Rede ist natürlich von den Philosophenkönigen, dargestellt als der Kapitän. Der vernünftige Teil des Staates wird abgedrängt von der Übermacht des begehrenden Teils. Jedoch zeigt sich mit dem schwerhörigen und kurzsichtigen Kapitän auch die Unfähigkeit einiger Philosophen in der Praxis, die die „Matrosen“ dazu veranlasst, sie weniger ernst zu nehmen. Im Gleichnis dramatisch visualisiert finden sich wie gesagt durchaus Parallelen zu alltäglichen Situationen: man denke beispielsweise an Wissenschaftler oder Politiker, von denen einigen Fehler passiert sind. Schon stürzen sich haufenweise Menschen auf sie und meinen, es nach zehnminütiger Internetrecherche oder einer reißerischen Dokumentation besser zu wissen als der seit Jahren renommierte Professor oder Abgeordnete, der nur einen Fehler begangen und ihn im schlimmsten Fall nicht zugegeben hat.
Über die Erkenntnis, dass viele ideale Formen von Ideen, wie die der Gerechtigkeit, in der natürlichen Welt nicht existieren, kommt Platon zu dem Schluss, dass es eine Welt der Ideen geben muss. Diese ist das, was eigentlich real existiert. Im Höhlengleichnis schafft Platon es, seine metaphysische Theorie bildlich darzustellen: In einer Höhle unter der Erde sitzen Menschen, an Armen und Beinen gefesselt, den Blick gegen die Höhlenwand gerichtet. Hinter ihnen auf einem Felsvorsprung brennt ein Feuer, vor dem andere mithilfe verschiedener Gegenstände Schatten an die Wand werfen, gegen die die Menschen unten in der Höhle schauen. Sie kennen nichts anderes, sind so aufgewachsen. Deshalb glauben sie, diese Schatten wären die reale Welt und
„Wenn sie sich untereinander unterhalten könnten, da würden sie wohl glauben, die wahren Dinge zu benennen, wenn sie von den Schatten sprechen, die sie sehen.“
Und würde man nun einen dieser Menschen mit an die Erdoberfläche nehmen, um
„ins Licht selbst zu blicken, dann würden ihn seine Augen schmerzen, und fluchtartig würde er sich dem zuwenden, was er anzublicken vermag; die würde er dann für klarer halten als das zuletzt Gezeigte…“
So erläutert Platon, dass die Menschen nur Schatten der Realität, der Ideen wahrnehmen. Sie sind entfernt von der wahren Welt der Ideen und können nur durch die Philosophie, die im Aufstieg aus der Höhle symbolisiert wird, befreit werden, indem sie durch die Entbindung von den Sinnen die Menschen ermöglicht, die Wahrheit zu sehen. Bernhard Kytzler beschreibt das Höhlengleichnis in seinem Kommentar als
„eine Vision von schaurig-dunkler Schönheit, mit der später die blendende Tageshelle kontrastiert wird. Ein existentieller Zustand verdeutlicht sich; er erscheint in einem existenziellen Bilde, das den nach-denkenden Geist unabweisbar fesselt und zu weiterem Forschen führt, ja zwingt.“
Nicht umsonst sei das Höhlengleichnis das berühmteste und meist diskutierte, wie zitierte Gleichnis Platons.
Ganz am Ende der Politeia steht noch die Frage nach dem Tod und dem, was danach kommt. Platon erzählt die Geschichte eines Scheintoten, der zurückgekommen ist und die gemachten Erfahrungen mitteilt. Dabei übertrifft er die Überlegungen zum Tod in Apologie, Phaidon und Phaidros zum einen durch die Beglaubigung, die der „Er“ gibt, zum anderen, weil er auch Schicksale anderer historischer Personen wie Agamemnon oder Odysseus erwähnt. Besonders detailliert wird die Zeit vor der Wiedergeburt der Seelen beschrieben: nach dem Tod verbringen sie eintausend Jahre, in einer Art Hölle/Fegefeuer oder im Himmel mit herrlichem Leben und „unerhörte(r) Pracht des Geschauten.“ Danach werden sie zur Spindel „im Schoß der Notwendigkeit“ gebracht. Während die Seelen ihren neuen Lebensweg wählen können, sind sie noch in vollem Bewusstsein über ihr vorheriges Leben. Während einige Seelen das Leben eines bestimmten Tieres oder Menschen wählen, ist besonders die Wahl Odysseus‘ bemerkenswert:
„Zufällig schritt dem Los gemäß als allerletzte die Seele des Odysseus zur Wahl; durch die Erinnerung an ihre früheren Leiden von ihrem Ehrgeiz erlöst, ging sie lange herum und suchte das Leben eines geruhsamen Privatmenschen und fand es mit Mühe irgendwo liegen, unbeachtet von den andern; als sie es sah, sagte sie, sie hätte, auch wenn sie als erste gewählt, genau dasselbe getan, und sie war froh über ihre Wahl.“
Noch vor der Reinkarnation vergessen sie jedoch durch das Trinken aus einem besonderen Fluss all ihre Erinnerungen (weshalb sie die unsterbliche Seele in Platons früherem Menon-Dialog wiederfinden muss, um zu wahrem Wissen zu gelangen). „Die Ordnung der Welt, des Staates, der Seele“ werden im Mythos vom Bericht aus dem Jenseits als „ineinander zugeordnete Systeme“ zusammengefasst und verbunden durch die Spindel der Notwendigkeit.


Weitere interessante Werke

Selbstverständlich sind alle Werke Platons lesenswert. Dennoch möchte ich eine handvoll Dialoge, bei denen ich finde, dass sie sich gut für den Einstieg eignen vorstellen und hervorheben.
Die Apologie des Sokrates gilt nach gängiger Auffassung als das erste von Platon verfasste Werk. Es gibt noch sehr die Philosophie seines Lehrers Sokrates wieder. In dessen Verteidigungsrede vor seiner Hinrichtung 399 v.Chr. geht es primär um die Anschuldigungspunkte der Gottlosigkeit und Verführung der Jugend sowie das Leben nach dem Tod; ob es sich um einen traumlosen „Schlaf“ handelt oder ein erfüllendes Himmelreich. Beide Möglichkeiten können nicht schlimm sein für die Menschen, weshalb Sokrates seine Rede schließt mit den Worten:
„Jedoch ist es nun Zeit, dass wir gehen, ich, um zu sterben, und ihr, um zu leben. Wer aber von uns beiden zu dem besseren Geschäft hingehe, das ist allen verborgen außer nur Gott.“
Im Menon-Dialog wollen Sokrates und Gorgias` Schüler Menon erörtern, ob die Tugend lehrbar ist. Hierfür benötigen sie jedoch zunächst eine Definition der Tugend, in dessen Abschnitt darüber eine erste Unterhaltung darüber eingeschoben ist, was das Wissen sei:
„Auch die richtigen Vorstellungen sind eine schöne Sache, solange sie bleiben, und bewirken alles Gute; lange Zeit aber pflegen sie nicht zu bleiben, sondern gehen davon aus der Seele des Menschen, so dass sie doch nicht viel wert sind, bis man sie bindet durch begründetes Denken. Und dies, Freund Menon, ist eben die Erinnerung (…). Nachdem sie aber gebunden werden, werden sie zuerst Erkenntnisse und dann auch bleibend. Und deshalb nun ist die Erkenntnis höher zu schätzen als die richtige Vorstellung.“
Hieraus erwächst im später entstandenen Dialog zwischen Sokrates mit dem Mathematikstudenten Theätet, der das Wesen des Wissens, die wahre und falsche Auffassung behandelt, die bis heute gängige Definition des Wissens: Wissen ist wahre Meinung mit Begründung. Die Begründung geschieht hier nicht mehr über die Erinnerung einer unsterblichen Seele, sondern durch Vernunft und Klarheit über Differenz zu anderen Dingen und Kenntnis der Elemente in Sprache und Welt. Hierdurch beeinflusst Platon bis heute die Erkenntnistheorie. Durch im Verlauf des Theätet widerlegte Anflüge des Relativismus und zufällige Wahrheiten in Meinungen ohne Begründung, und das im Menon geschickt vorgeführte Vorurteil des Anytos, die Sophisten könnten niemals Lehrer der Tugend sein und würden jeden, der zu ihnen geht verderben, ohne dass er dies begründen konnte von denen alle drei Phänomene einem ständig im Alltag begegnen, bleiben die Dialoge Menon und Theätet aktuell und bilden zudem auch für Anfänger einen guten Einblick in die platonische Philosophie.
Die Dialoge Timaios und Kritias, die beide zu Platons Spätwerk zählen bilden ausschnittsweise die Grundlage aller Erzählungen über das verschollene Riesenreich Atlantis, eingebunden in den Rahmen der „Schöpfungsgeschichte“ im naturphilosophischen Timaios von 20e bis 26e, als auch im Fragment des Kritias zur Urgeschichte der Menschheit. In letzterem erzählt Platon in Passage 113c-121c die Geschichte von Atlantis: eine prunkvolle Inselstadt vom Gott Poseidon geschaffen, die von gottgesprossenen Königen regiert wird. Ihr Untergang folgt auf eine Degeneration der Sitten. Dargestellt werden die Gesetze zwischen „attischem Maß und orientalisch ausgreifender Maßlosigkeit.“ Sinnbildlich steht Atlantis bis heute für „Macht und Größe, (…) Verfall und jähen Sturz“, das sich zu allen Zeiten irgendwo widerspiegelt. Aufgrund dieser immerwährenden Aktualität, jedoch auch aufgrund der vielen Mythen um Atlantis und der Darstellung in Film und Literatur ist die Lektüre der Dialoge interessant für Menschen verschiedener Bildungshintergründe.


Fazit

Platons Leistung, besonders in der Politeia, die sein größtes Werk – und dazu eines, das zwar nicht mehr total unter seinem Einfluss steht, aber doch noch klar Sokrates‘ Wirkung beinhaltet – darstellt, ist unbestreitbar immens. Zu seiner direkten Leistung eines ersten Gesellschaftsentwurfs, als Staat analog aufgebaut zu einer Theorie der Seelen und die Entwicklung einer Ideenlehre durch teils ausgeklügelte Struktur und gleichnisartige bis mythenhafte, dem Leser seine Gedankengänge verbildlichende Darstellungen – im Fall des Schiffergleichnis von ständiger Aktualität – gesellen sich Berge an Spätfolgen, wie er sie wohl kaum selbst abschätzen hätte können. Über Seelen- und Ideenlehre und durch simple Parallelen mit dem Christentum beeinflusste Platon nicht nur die frühe Kirche, die sich an seinen Verbildlichungen bediente, sondern mit ihr bis heute Europa und die ganze Welt.
Mit Aufkommen des Islams und der Übersetzung von Schriften aus dem Griechischen ins Arabische nimmt sein Einfluss erneut an Fahrt auf, prägt er islamische Philosophen wie Avicenna oder al-Fārābī, die ihm hinsichtlich seines Staatsentwurfs nacheifern und die islamischen Gesellschaftsstrukturen beeinflussen. Sie gehen jedoch noch weiter als Platon, indem sie nicht nur einen Philosophenkönig, sondern einen „Propheten“-König fordern, der nicht nach Weisheit, sondern danach, was dieser meint, was Gott angeblich sagt, gebieten darf.
Über diese Aspekte hinaus schuf Platon mit der Auffassung, nicht Beobachtung, sondern Vernunft sei der Schlüssel zum Wissen die Grundlage für sämtliche nachfolgende vom erkenntnistheoretischen Rationalismus geprägte Philosophie, besonders des 17. und 18. Jahrhunderts. Dass Platon ein großer Denker war, ist nicht neues – dennoch hat er angesichts seiner Werke und der vielen Dinge, die er beeinflusst hat und noch beeinflusst, noch mehr Aufmerksamkeit verdient. Also: Lest Platon!


Literaturverzeichnis

1. Primärliteratur:
– Platon: Der Staat. Stuttgart: Reclam 2012.
– Platon: Sämtliche Werke. Band 1. (Apologie, Kriton, Ion, Hippias 2, Theages, Alkibiades 1, Laches, Charmides, Euthyphron, Protagoras, Gorgias, Menon, Hippias 1, Euthydemos, Menexenos.) Hrsg.: Burghard König, Hamburg 2019.
2. Sekundärliteratur:
– Buckingham, Will; Burnham, Douglas u.a.: Das Philosophie-Buch. München:
Dorling Kindersley 2011.
– Kytzler, Bernhard: Platon – Das Höhlengleichnis. Sämtliche Mythen und Gleichnisse. Berlin: Insel Verlag 2017.
– Meyer, Martin: Platon und das Sokratische Pragma, in: Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter 9. Hrsg.: John Benjamins B.V. Amsterdam 2004.
– Nimtz, Christian: Rationalismus, in: Ders., Jordan, Stefan (Hrsg): Grundbegriffe der Philosophie. Ditzingen: Reclam 2009.
– Anonym: „Rationalismus“. Abgerufen unter: https://dewiki.de/Lexikon/Rationalismus am 08.09.2021.
– Fischer, Holger: Philosophische und politische Einflüsse auf die Kirche. Abgerufen unter http://theologischetexte.over-blog.com/2017/05/antike-philosophie-und-kirche.html am 05.09.2021.
– Haertel, Brigitte: Die Seele – mehr als ein abstrakter Begriff. Abgerufen unter https://www.katholisch.de/artikel/20674-die-seele-mehr-als-ein-abstrakter-begriff am 05.09.2021.
– Rudolph, Ulrich (2019): Zwischen Platon, Ardaschmir und Mohammed: Politische Philosophie in der islamischen Welt. Abgerufen unter https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110664836-023/html am 04.09.2021.

Titelbild: bearbeitet nach
https://www.nzz.ch/amp/feuilleton/die-welt-aus-schatten-wie-duerrenmatt-und-blumenberg-platon-lesen-ld.1640631 (30.11.2021)

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