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Der jüngst erschienene Beitrag „Für die Liberalen“ hat eine kleine Gegenrede verdient. Hauptanstoß ist hierbei die Schlussthese, die in etwa wie folgt lautet:

Wer seinen politischen Gegner liberal nennt, gesteht ihm Werte zu, für die der patriotische Aktivist selbst kämpft. Wer den Liberalismus ablehnt, kann sich nicht über den Abbau „liberaler“ Werte, wie beispielsweise den der Meinungsfreiheit, beklagen.

Legitimer Widerstand gegen den liberalen Status quo sei also überhaupt nur aus liberaler Haltung heraus möglich. Das ist ein starkes Stück. So als wäre Meinungsfreiheit eine liberale Erfindung und freie Rede etwas, das ausgerechnet die Französische Revolution hervorgebracht hat.

Eingangs umreißt der Beitrag die Entstehung und Ideen des Liberalismus. Zwei zentrale Grundannahmen des Liberalismus werden dabei skizziert. Erstens, es gäbe so etwas wie eine erkennbare universelle Wahrheit und zweitens, alle Menschen seien gleich. Hinter diesen Annahmen steht der Glaube an eine Vernunft sowie an ein loslösbares und losgelöst gedachtes Subjekt namens Individuum.

Ein dritte zentrale Annahme des Liberalismus, die nur implizit zur Sprache kommt, ist sein lineares Weltbild, das sich im Fortschrittsglauben ausdrückt. Für diesen Fortschrittsgedanken der Aufklärung hat Rolf Peter Sieferle im Gegensatz zum transzendentalen Weltbild des Mittelalters den Begriff Realtranszendenz geprägt. Gegenüber dem komplementären Dies- und Jenseits des Mittelalters, das ein statisches Weltbild ermöglichte, trat der Glaube daran, dass das Paradies bzw. die menschliche Vollendung nicht erst im Jenseits, sondern bereits auf Erden eintreten werde. Das Jenseits wird ins zukünftige Diesseits geholt und Ziel aller menschlichen Entwicklung. Dieser Aspekt ist nicht nur wesentlich für den Liberalismus. An ihm lässt sich auch seine enge Verwandtschaft mit Kommunismus/Sozialismus und National-Sozialismus/Faschismus aufzeigen. Alle haben als zentrales Merkmal diese Realtranszendenz. Dass Kommunismus und Liberalismus nicht nur in der Struktur, sondern auch in den Zielen Ähnlichkeiten aufweisen, zeigen Äußerungen wie diese:

Im Unterschied zum Rechtsextremismus berufen sich sozialistische und
kommunistische Bewegungen auf die liberalen Ideen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit –
interpretieren sie aber auf ihre Weise um.

Dossier: Linksextremismus (Erstellt am 12.01.2021) der Bundeszentrale für politische Bildung

Absolute erkennbare Wahrheit ist im Fortschritt allerdings gar nicht möglich, da jeder Fortschritt nicht nur die alten Wahrheiten überwindet, sondern auch selbst nur bis zur Überwindung durch weiteren Fortschritt gültig ist. Der Anspruch auf absolute erkennbare Wahrheit relativiert sich also schon durch den Fortschrittsglauben selbst. Hinzu kommt das Problem mit der Vernunft bzw. dem Glauben daran, dass der Mensch, soweit er die Freiheit hat und von außen nicht beeinträchtigt wird, zu vernünftigem Handeln und vernünftigen und vor allem universalen Schlüssen fähig sei. Aus diesem Glauben resultiert die Anmaßung, als Angehöriger einer konkreten europäischen Kultur universelle Menschenrechte zu postulieren.

Aus rechter Sicht kann sich dem nur schwer angeschlossen werden, da der Mensch hier ganz anders gesehen wird. Er wird als in sich unvollkommen – als bedingt – gedacht. Dasein ist wesentlich Mitsein, der Mensch immer schon mit anderen, in einer konkreten Umwelt und Einbindung. Er kann nicht nur Individuum sein, er kann allerdings auch nicht nur Kollektiv sein. Eine für jeden erkennbare, absolute und objektive Wahrheit ist unter diesen Voraussetzung schwer denkbar. Wahrheit hat hier eher den Charakter der Unverborgenheit und ist so weder per se universell noch relativ.

Der liberale Vernunftglaube ist Triebfeder für die vollständige Befreiung des Individuums von tatsächlichen, eingebildeten oder sogar freiwilligen Zwängen und Bindungen. In diesem Punkt zeigt sich, wie schon beim Fortschrittsglauben, die tiefe Verwandtschaft zwischen Kommunismus und Liberalismus. Überall dort, wo der konkrete Mensch sich nicht verhält, wie er sich als vernünftiges Individuum verhalten sollte, wird er entweder umerzogen oder „befreit“.

„Ein merkwürdiger Mythos beherrscht die Moderne: Der Mythos von der rationalen Veränderbarkeit der Welt.“

Sieferle, Epochenwechsel

Der Kommunismus will letztlich die Herrschaft der Vernunft und geht dabei von der Vernünftigkeit der Herrschaft aus (Sieferle). Diesen Zug trägt auch der Liberalismus. Wenn wir das System, in dem wir heute leben, als Liberalismus bezeichnen wollen, wird das gerade sehr deutlich. Die Corona-Politik bspw. ist beherrscht von dem Glauben an die rationale Veränderbarkeit der Welt. Es ist dabei erstaunlich zu sehen, wie wenig die Maßnahmen ausrichten und noch erstaunlicher, wie wenig das die Herrschenden zu Änderungen ihrer Annahmen bewegt. Auf der anderen Seite gibt es liberale Staaten wie Schweden, die eine dezidiert liberale Strategie verfolgen, die eher an traditionelle Auffassungen erinnert. Das durch Corona verursachte Leid und der Tod wird genauso bedauert wie im Rest Europas. Man macht sich allerdings weniger die Illusion, dieses Leid und die Toten verhindern zu können. Hier scheint der Glaube an der rationale Veränderbarkeit der Welt, wenn auch nur graduell, weniger ausgeprägt zu sein.

An dieser Stelle wird die Unschärfe des Liberalismusbegriffs deutlich, womit wir beim Ausgangsthema wären. Jeder Begriff ist eine Vereinfachung, und mit jedem Wort, das wir wählen, nehmen wir der Welt, die wir damit beschreiben, etwas von ihrer Fülle und Gänze. Nun wird man hier nicht denselben Ausweg wählen wollen, der auf der linken Seite gängig ist. Weil bspw. Volk nicht so definiert werden kann, dass alle tatsächlichen Phänomene des Volkseins abschließend beschrieben werden, wird die Existenz eines Volkes insgesamt geleugnet. Gleiches geschieht mit den Begriffen Mann und Frau und vielem mehr.

Es ist trotzdem zweckmäßig, ein aufs andere Mal von groben Begriffen wie Sozialismus und Liberalismus Abstand zu nehmen und mehr auf die Prämissen zu schauen, die diesen Weltanschauungen zugrunde liegen. In diesem Sinne liberal wäre jemand, der an die rationale Veränderbarkeit der Welt glaubt. Der glaubt, der Mensch sei ein leeres Blatt Papier, auf das alles geschrieben werden kann, was denkbar ist. Der meint, der Mensch müsse nur frei genug sein, dann würde die Vernunft schon aus ihm herausbrechen. Der glaubt, alles was machbar ist, sei auch gut.

Die Neue Rechte kann im Grunde weder wirklich sozialistisch noch liberal sein. Der tiefe Einblick in die Unvollkommenheit des Menschen, der Zugang zur Welt, der wesentlich ein vernehmender ist und kein berechnender, sind mit den liberalen und sozialistischen – kurz aufklärerischen – Grundannahmen nicht zu vereinbaren. Wenn also jemand innerhalb des patriotischen Milieus als liberal oder sozialistisch kritisiert wird, weil er eine Politik vertritt, die diese Prämissen erkennen lässt, dann ist das richtig und wichtig. Wenn diese Kritik allerdings vom sozialistischen Ende des rationalistischen Hufeisens gegen das liberale Ende vorgebracht wird, ist sie sicher genauso wenig zielführend, wie umgekehrt.