Der Begriff des Liberalismus ist in rechten und konservativen Kreisen meist ein negativ konnotierter Kampfbegriff. Drückebergerei, Anbiederungsversuche an die unpolitische, formbare „Mitte“, Ausgrenzungsbestrebungen gegen die, die auch unbequeme Auffassungen auf den Marktplätzen des Landes verbreiten, die Reduzierung des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens auf die Profitmaximierung, die Atomisierung der Gesellschaft, zügelloser Import fremder Kulturen, einhergehend mit dem Ausverkauf der eigenen, falsche Toleranz gegenüber importierten Weltsichten mit Totalitätsanspruch und vieles mehr wird häufig impliziert, wenn der politische Gegner mit dem Stigma „liberal“ versehen wird. So berechtigt die Kritik an genannten Tendenzen in unserem Land auch sein mag, mit entsprechender Etikettierung sollte nicht leichtfertig umgegangen werden.
In konservativen und rechten Kreisen hat die Kritik am Liberalismus naturgemäß Tradition – besonders die Autoren der Konservativen Revolution bieten hier einen reichen Schatz an geistigen Gegenmodellen. Was hier kritisiert wird, hat jedoch meist wenig mit der aktuell ausufernden Beschimpfungen politisch unliebsamer Konkurrenten im Meinungswettstreit gemein.
Die Literatur zur Entwicklung des Liberalismus füllt Bibliotheken, sie hier ausführen zu wollen wäre völlig aussichtslos. Dennoch lohnt sich ein Blick auf die Herkunft dieser Denktradition – wenigstens um zu wissen, als was der politische Gegner in unschöner Regelmäßigkeit eigentlich beleidigt wird.
Der Liberalismus lässt sich auf die Denktradition der Aufklärung zurück führen: Das Christentum hatte im ausgehenden Mittelalter seine Monopolstellung, das Weltgeschehen zu erklären und Sinn zu stiften weitgehend eingebüßt. Gleichzeitig wurde die wieder entdeckte antike Philosophie vom aufstrebenden Bürgertum begierig aufgesogen, was zu einer geistigen Blüte in Europa führte. Der neu entstandene Markt für als Massenware gedruckte Bücher machte neue Gedanken breiteren Bevölkerungsschichten zugänglich, was diese Entwicklung zusätzlich befeuerte. Das sich daraus entwickelnde Menschenbild ließe sich wie folgt grob umreißen:
Der gebildete, rational denkende und in seinen Trieben durch den Zugang zu Kultur domestizierte Bürger solle Bildung zur Freiheit und Selbstbestimmung gelangen. Diese Auffassung von Freiheit ist vom heute aktuellen Minderheitenfetischismus und geistiger Beliebigkeit weit entfernt. Vielmehr wird ein metaphysisches Verständnis von Wahrheit zugrunde gelegt – diese wird als absolut verstanden, nicht relativ von einem individuellen oder kulturellen Standpunkt abhängig.
Von Rechts lässt sich diese Auffassung aus zwei Perspektiven kritisieren: In seinen Grundzügen ist diese Weltsicht universalistisch: Überall ließen sich die gleichen rationalen Schlüsse für die Lebensführung, den Blick auf die Welt und für das Geistesleben ziehen. Für organisch gewachsene Weltbilder und Lebensweisen ist hier nur so lange Raum, wie sie nicht mit dem Diktat der Vernunft kollidiert. So ist im utopischen Endzustand einer aufgeklärten Welt kein Platz für verschiedene Religionen, voneinander abweichende Gesellschaftsordnungen oder Wertsysteme, die sich fundamental unterscheiden. Aus aufgeklärter Perspektive ist es hier Zeit für Kants häufig zitierten „Ausgang des Menschen aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit“, um vernunftbasierten Formen des Lebens und Zusammenlebens den Weg zu ebnen.
Was vielen rechten und konservativen Auffassungen widerspricht ist weiterhin der Umstand, dass der Liberalismus die Menschen für prinzipiell gleich erklärt: Herkunft und gesellschaftlicher Stand dienen nicht länger als bewährte Ordnungsschemata für den Einzelnen wie in der organisch gewachsenen Gesellschaft der Fall, sondern fungieren als Hemmnis für die Entfaltung der Freiheit, die prinzipiell gleich in jedem Menschen angelegt ist. Diese Unterschiede zwischen den Menschen gelte es, durch Aufbrechen gesellschaftlicher Schranken und eine umfassende humanistische Bildung für alle zu überwinden.
Bekanntlich wurde mit der Französischen Revolution der sich geistig längst anbahnende Siegeszug dieses grob skizzierten Menschenbildes eingeleitet. Auf konservativer Seite fanden sich diejenigen, die das Bestehende konservieren wollten. Da sich Tradition meist aus sich selbst heraus legitimiert, war das geistige Fundament zur Legitimierung der eigenen Auffassungen meist eher dürftig beschaffen – vor allem wenn sich diese gegen die Vorherrschaft einer universalen Rationalität selbst wendet. So blieb Konservativen jeglicher Couleur meist nichts, als die politischen Scherben aufzulesen, die Entwicklung intellektuell einzuordnen – und meist zeitversetzt mitzutragen.
Das Aufbrechen mittelalterlicher Ordnungssysteme brachte letztendlich über eine Vielzahl historischer Etappen Rahmenbedingungen hervor, auf denen heute weitgehend unwidersprochen das Zusammenleben in Deutschland, Europa und großen Teilen der Welt fußt. Dazu zählen Errungenschaften wie Rechtssicherheit, der allgemeine Zugang zu Bildung, die Freiheit der Forschung und Lehre, soziale und berufliche Aufstiegschancen, Presse- und Meinungsfreiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, politische Partizipationsmöglichkeiten, Gewerbefreiheit und vieles mehr.
Der metapolitische Sieg liberaler Werte lässt sich auch am Verhalten im patriotischen Milieu ablesen: mit gutem Recht berufen wir uns im mosaik-rechten Milieu auf sie, wenn wir gegen die Löschung bei Facebook, Gesinnungsterror, das schleichende Voranschreiten von Berufsverboten Oppositioneller, die Verhinderung von Demonstrationen und Informationsveranstaltungen oder für das Recht kämpfen, unsere Auffassung von einer erstrebenswerten Zukunft in Wort, Schrift und Bild zu verbreiten. Liberale Werte sind längst zu Grundpfeilern unserer Lebensweise geworden, die zu verteidigen viele Patrioten für sich in Anspruch nehmen.
Es soll hier weder darum gehen, über alternative Denkmodelle zu urteilen, noch den Allgemeingültigkeitsanspruch dessen zu betonen, was sich bis heute historisch durchgesetzt hat. Jedoch sei vor einem unsachlichen Gebrauch unreflektierter Kampfbegriffe gewarnt: Wer politische Gegner als „Liberale“ bezeichnet, macht sie zu Trägern der Werte, die der Aktivist im Widerstandsmilieu wie selbstverständlich für sich in Anspruch nimmt. Wer „liberal“ pauschal als Schimpfwort verwendet, versetzt sich zumindest semantisch in die Position desjenigen, der diese ablehnt. Wer den „Liberalismus“ meint abzulehnen, hat keinen Grund sich über den voranschreitenden Abbau von Bürgerrechten zu beklagen.